Endlich erträgliche Meetings dank Liberating Structures - eine Einführung
Vor fünf Jahren habe ich das erste Mal von Liberating Structures gehört. Dabei geht es um knapp 50 kleine Methoden, die den Meeting-Alltag aufwerten können. Sie stehen für Interaktion, Partizipation und die Involvierung aller Beteiligten.
Damals war ich so begeistert, dass ich mir jeden Tag eine dieser Methoden im Detail angeschaut habe. Seitdem begleiteten sie mich in vielen Workshops, Trainings und Moderationen.
In diesem Beitrag erfährst Du, was Liberating Structures auszeichnet und wie auch Du sie nutzen kannst, um langweilige Meetings in produktive und menschlichere Begegnungen zu verwandeln. Ich zeige Dir meine fünf Lieblingsmethoden und gebe Dir praktische Tipps für die Anwendung.
Warum Liberating Structures?
Der Großteil an Meetings ist ineffizient. Das ist nicht nur meine Wahrnehmung, sondern auch die vieler anderer. Laut der Studie „Meet the #1 barrier to productivity“ von Atlassian, bei der über 5.000 Wissensarbeitende befragt wurden, äußern sich erschreckende Zahlen:
72 % der Meetings werden als ineffektiv empfunden.
80 % der Befragten glauben, sie könnten produktiver arbeiten, wenn sie weniger Zeit in Meetings verbringen würden.
76 % fühlen sich an Tagen mit vielen Meetings erschöpft.
Diese Zahlen sprechen für sich. Ineffiziente Meetings belasten nicht nur die Mitarbeitenden, sondern auch Unternehmen. Laut ArbeitsABC verlieren Unternehmen mit über 5.000 Mitarbeitenden jährlich mehr als 100 Millionen US-Dollar durch ineffiziente Meetingformate.
Die Zahlen zeigen, dass es eine Veränderung braucht. Zum Beispiel durch Liberating Structures.
Grund genug, um etwas zu ändern. Genau hier setzen Liberating Structures an. Das übergeordnete Ziel der Bewegung wird wie folgt formuliert:
„We want to create opportunities for everyone (including ourselves) to become what they are capable of becoming. Plus, we want to inspire more kindness and reduce suffering in the world.“
Auf Deutsch heißt das für mich:
Wir wollen Möglichkeiten schaffen, damit jeder Mensch das eigene Potenzial entfalten kann. Gleichzeitig wollen wir mehr Freundlichkeit fördern und Leid in der Welt verringern.
Ein ambitioniertes Ziel, das im Meetingalltag beginnt.
Meine fünf Lieblingsmethoden im Überblick
Nachfolgend schauen wir uns meine fünf liebsten Liberating Structures an. Diese gehe ich recht strukturiert durch und schaue erst aufs Ziel, dann auf den Ablauf und auf benötigte Utensilien. Abschließend ergänze ich noch ein, zwei persönliche Gedanken.
Nachlesen kannst Du diese (und alle weiteren) Liberating Structures auf deren Webseite.
1. Der Klassiker: 1-2-4-All
Ziel: Alle Beteiligten zum Denken und Mitreden aktivieren.
Ablauf: Zuerst denkt jede Person für sich, danach tauscht man sich mit einer anderen Person aus, dann in Vierergruppen. Zum Schluss teilt die Gruppe im Plenum.
Benötigte Utensilien: Papier, Stift, ggf. Timer. Funktioniert auch digital hervorragend mit Breakout-Räumen.
Diese Methode nutze ich oft, wenn ich eine große Gruppe in kurzer Zeit zu einem Thema zum Nachdenken bringen will. Hier kann niemand nur zuhören – alle sind beteiligt. Bei den einzelnen Durchgängen wird die Zeit erfahrungsgemäß etwas eng. Lass Dich davon nicht verunsichern.
Bei der Liberating Structure 1-2-4-All geht es um Zuhören und das Einbringen eigener Ideen
2. Klare nächste Schritte mit What, So What, Now What?
Ziel: Erkenntnisse reflektieren und konkrete Handlungen ableiten.
Ablauf: Erst wird gesammelt, was beobachtet wurde (What?), dann, welche Bedeutung das hat (So What?) und schließlich, was daraus folgt (Now What?).
Benötigte Utensilien: Flipchart oder digitale Pinnwand, Raum für Gruppenarbeit.
Diese Struktur hilft mir besonders bei Retrospektiven oder Projektabschlüssen, um aus Erfahrungen wirklich etwas mitzunehmen – nicht nur inhaltlich, sondern auch emotional.
Wenn To-Dos entstehen, empfehle ich sowohl noch eine Verantwortlichkeit (Wer?) und einen Zeithorizont (Wann) zu ergänzen.
3. Wertschätzung mit Appreciative Interview
Ziel: Positive Erfahrungen sichtbar machen und Vertrauen schaffen.
Ablauf: In Zweiergruppen interviewen sich die Teilnehmenden gegenseitig über ein besonders gelungenes Erlebnis im Arbeitskontext.
Benötigte Utensilien: Leitfragen, ggf. Notizen.
Diese Methode nutze ich gerne zu Beginn von Workshops, um Energie, Vertrauen und Wertschätzung zu fördern. Sie erinnert mich an die Wirkung von Storytelling bei Präsentationen, über das ich an anderer Stelle geschrieben habe.
4. Minimalanforderungen definieren mit 15% Solutions
Ziel: Pragmatismus fördern und ins Handeln kommen.
Ablauf: Teilnehmende identifizieren, was sie mit den Ressourcen, die sie bereits haben, sofort umsetzen können (also 15 % statt 100 %).
Benötigte Utensilien: Post-its, Timer.
Diese Struktur ist besonders wertvoll, wenn Gruppen in die Umsetzung kommen wollen, aber vor einem vermeintlich großen Berg stehen.
Es erinnert an meine Moderationsphilosophie, nicht zu viel auf einmal zu wollen, wie ich es etwa in meinem Beitrag über Moderationskarten beschreibe.
Bei Workshops tausche ich Moderationskarten gerne gegen ein Flipchart - auch bei Liberating Structures
5. Öffnung klassischer Formate mit User Experience Fishbowl
Ziel: Die Perspektiven von Nutzenden oder Betroffenen einbeziehen.
Ablauf: Eine kleine Gruppe diskutiert im Innenkreis sichtbar für alle (Fishbowl). Die Außengruppe hört zu. Danach kann gewechselt oder reflektiert werden.
Benötigte Utensilien: Stuhlkreis, Raumaufteilung.
Fishbowl-Formate helfen mir, Dynamik und Fokus in Diskussionen zu bringen. Besonders effektiv bei komplexen Themen mit unterschiedlichen Stakeholdern.
Erfahrungsgemäß erfordert es etwas Mut, sich an der Diskussion zu beteiligen. Daher kann es sein, dass Du zu Beginn aktiv ermutigen musst.
Worauf es bei der Anwendung von Liberating Structures ankommt
Wenn Du Liberating Structures in Deinen Meetings oder Workshops nutzen möchtest, braucht es aus meiner Sicht zwei Dinge:
Ein vollständiges Verständnis der Methode, wenn Du sie anmoderierst. Die Einfachheit der Methoden ist oft trügerisch – umso wichtiger ist ein gutes Timing und klares Erwartungsmanagement. Gerade, weil sie oft vom Status Quo abweicht und die Teilnehmenden dadurch verunsichern kann.
Offenheit der Teilnehmenden, sich auf neue Formen einzulassen. Gerade in klassischen Organisationen braucht es hier Fingerspitzengefühl und eine gute Moderation. Einige Hinweise dazu findest Du auch in meinem Beitrag zu Workshopmoderation vs. Eventmoderation.
Solltest Du Dir unsicher sein, kannst Du die Methoden zur Übung ein, zwei ausgewählten Personen erklären. Deren Fragen werden Dir eventuell auch bei der Moderation begegnen. Das ist eine gute Generalprobe.
In kleiner Runde lässt sich mit Liberating Structures hervorragend experimentieren
Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, steht der erfolgreichen Anwendung nichts mehr im Weg.
Fazit: Liberating Structures sind kein Allheilmittel, aber ein Anfang
Liberating Structures bieten eine enorme Vielfalt und niederschwellige Ansätze, um Meetings menschlicher, produktiver und inspirierender zu gestalten. Sie laden dazu ein, Routinen zu hinterfragen und Interaktion zu fördern – ganz gleich, ob es sich um ein kleines Team-Meeting oder eine große Konferenz handelt.
Wie bei jeder Methode gilt: Nicht alles passt immer. Doch wer einmal die Erfahrung gemacht hat, dass alle zu Wort kommen, Ideen gemeinsam entstehen und Energie statt Frust im Raum liegt, wird sie nicht mehr missen wollen.
Wenn Du also beim nächsten Mal ein Meeting planst, dann stell Dir die Frage: Wie kann ich dafür sorgen, dass alle beteiligt sind und wir gemeinsam weiterkommen? Vielleicht ist die Antwort ja eine der Liberating Structures.